BEM in der Praxis – Krankheit und Urlaub

Krankheit und Urlaub. Was geht und was nicht?
Wer arbeitet, hat Anspruch auf Urlaub. Der Urlaubsanspruch nach dem BurlG ist ein Anspruch auf Befreiung von der Arbeitspflicht. Wer nicht arbeiten kann – zum Beispiel aufgrund einer Krankheit – hat also keinen Anspruch? So einfach ist es natürlich nicht. Ganz im Gegenteil: Beim Thema „Krankheit und Urlaub“ gilt es, verschiedenste Aspekte zu beachten. Deshalb habe ich einige häufige Fragen und Antworten für Sie zusammengestellt.

Entstehen Urlaubsansprüche auch bei langfristig erkrankten Arbeitnehmern, die keine Arbeitsleistung erbringen können?
Ja. Jeder Arbeitnehmer hat nach § 1 Bundesurlaubsgesetz (BurlG) in jedem Kalenderjahr auch dann Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wenn er im gesamten Urlaubsjahr arbeitsunfähig erkrankt war. Dies ist unabhängig davon, ob er Entgeltfortzahlung, Krankengeld oder eine befristete Erwerbsminderungsrente erhält. Hat der Arbeitnehmer aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit tatsächlich nicht die Möglichkeit gehabt, seinen Urlaub zu nehmen, ist er berechtigt, den Urlaub nach Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit in einem anderen als dem ursprünglich festgelegten Zeitraum in Anspruch zu nehmen, ihn also ins nächste Jahr zu übertragen.

Wann verfällt der angesammelte Urlaub bei langer Krankheit?
Die Urlaubsansprüche langfristig erkrankter Arbeitnehmer können nicht unbegrenzt übertragen werden. Sowohl der gesetzliche Urlaub als auch der etwaige Zusatzurlaub Schwerbehinderter verfallen 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, also zum 31. März des zweiten auf das jeweilige Urlaubsjahr folgenden Jahres. Dies entschied das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 07.08.2012.1 Die zeitliche Begrenzung ergibt sich aus der Auslegung des § 7 Abs. 3 BurlG. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Schulte“2  das Ausufern des Urlaubsanspruches eingeschränkt und einen gesetzlich oder tarifvertraglich vorgesehenen Verfall des Urlaubs 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres für zulässig erklärt. Ist ein Arbeitnehmer also im Jahr 2022 erkrankt und hat er noch Anspruch auf seinen Urlaub, so verfällt dieser grundsätzlich zum 31. März 2024.

Hier gilt jedoch eine neue Ausnahme nach dem Europäischen Gerichtshof mit seinem Urteil vom 22.09.2022 – C120/21. Der Arbeitgeber muss die Arbeitnehmer in dem Jahr, in dem sie arbeitsunfähig erkrankten, rechtzeitig in die Lage versetzt haben, den Urlaub zu nehmen. Teilt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer:innen nicht rechtzeitig mit, wieviel Urlaub ihnen zu steht und wann dieser verfällt, geht dieser Urlaubsanspruch nicht unter – weder nach 15 Monaten, noch nach den gesetzlichen Verjährungsfristen.

Praxistip
Wie lässt sich der Urlaubsanspruch langfristig erkrankter Arbeitnehmer nach ihrer Rückkehr sinnvoll reduzieren?
Wenn es darum geht, den während der Arbeitsunfähigkeit aufgelaufenen Urlaub abzubauen, sind Kooperationsbereitschaft und Einfallsreichtum gefragt. Denn es wäre kontraproduktiv, wenn der Arbeitnehmer nach längerer Erkrankung sich langsam wieder an die Belastungen des Arbeitsalltags gewöhnt und dann – um seine Urlaubsansprüche nicht zu verlieren – für 2 Monate in den Urlaub geht.

Suchen Sie das Gespräch mit den Betroffenen, und finden Sie gemeinsam individuelle Lösungen. Möglich sind verschiedenste Varianten der Stundenreduktion mit Gehaltsausgleich durch den Urlaubsanspruch, zum Beispiel Vollzeitgehalt für Teilzeitarbeit oder wöchentliche Frei-Tage für einen bestimmten Zeitraum. So kann z.B. eine stufenweise Wiedereingliederung vom Arbeitgeber fortgeführt werden. Die Belastungen sind reduziert, und die Eingliederung wird nachhaltig.

Können Betroffene während der stufenweisen Wiedereingliederung Urlaub nehmen?
Die Mitarbeitenden sind während einer stufenweisen Wiedereingliederung arbeitsunfähig krank. Während eines Urlaubs hingegen ist der Mitarbeitende arbeitsfähig. Daher ist es unerlässlich, mit dem zuständigen Rehabilitationsträger einen Urlaub abzusprechen, um die Entgeltersatzleistung nicht zu gefährden.

Gemeinsam muss geklärt werden, ob durch die Unterbrechung durch den Urlaub das Ergebnis der stufenweisen Wiedereingliederung gefährdet ist oder nicht. Ist absehbar, dass die stufenweise Wiedereingliederung erfolgreich beendet werden kann, lässt sich die stufenweise Wiedereingliederung in Ausnahmefällen durch einen Urlaub unterbrechen. Voraussetzung ist jedoch, dass das Ende der Unterbrechung von vornherein absehbar ist und der Arzt den Urlaub befürwortet z.B. zur Stabilisierung des Gesundheitszustandes.

Was ist, wenn betroffene Arbeitnehmer während der stufenweisen Wiedereingliederung krank werden?
Keine einfache Frage. Um sie zu beantworten, ist es sinnvoll, sich zunächst das Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung vor Augen zu führen. Arbeitsunfähige Versicherte sollen nach lang andauernder, schwerer Krankheit schrittweise an die volle Arbeitsbelastung am bisherigen Arbeitsplatz herangeführt werden und so den Übergang zur vollen Berufstätigkeit erreichen. Durch eine individuell angepasste Steigerung von Arbeitszeit und Arbeitsbelastung wird arbeitsunfähigen Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben, ihre Belastbarkeit einzuschätzen, Selbstsicherheit wiederzugewinnen und die Angst vor Überforderung und Krankheitsrückfall abzubauen.

Eine stufenweise Wiedereingliederung kann grundsätzlich aus gesundheitlichen oder betrieblichen Gründen bis zu sieben Kalendertage (einschließlich Wochenende und Feiertage) unterbrochen werden. In Ausnahmefällen ggf. auch länger. Voraussetzung hierfür ist, dass die Prognose über die Verbesserung der Wiedereingliederung im Rahmen eines Hamburger Modells unverändert bleibt. Zudem muss gewährleistet sein, dass die stufenweise Wiedereingliederung trotz Unterbrechung erfolgreich beendet werden kann.

Andernfalls gilt die stufenweise Wiedereingliederung als abgebrochen.

Was passiert, wenn die stufenweise Wiedereingliederung aus betrieblichen Gründen unterbrochen wird?
Bei einer betriebsbedingten Unterbrechung der stufenweisen Wiedereingliederung von mehr als sieben Tagen – etwa aufgrund von Werksferien oder Kurzarbeit – erhalten die Betroffenen dennoch Übergangsgeld, sofern sie bis zum Beginn der Unterbrechung ihre volle Leistungsfähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder erreichen.3  Andernfalls ist die von der Rentenversicherung erbrachte stufenweise Wiedereingliederung mit dem Unterbrechungszeitpunkt beendet. Ausnahme: Die betriebsbedingte Unterbrechung der stufenweisen Wiedereingliederung über die Sieben-Tages-Frist erfolgt aufgrund „besonders gelagerter Feiertage“ (z.B. Jahreswechsel).

Fazit

  • Werden Beschäftigte arbeitsunfähig krank und konnten sie deswegen ihren Urlaub nicht nehmen (unabhängig davon, ob sie Entgeltfortzahlung, Krankengeld oder eine befristete Erwerbsminderungsrente erhalten), verfällt der Anspruch auf diesen Urlaub grundsätzlich erst 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres in dem der Anspruch entstanden ist, soweit der Arbeitgeber die Beschäftigten in dem Jahr der Erkrankung in die Lage versetzt hat, den Anspruch geltend zu machen.
  • Soweit eine stufenweise Wiedereingliederung aus gesundheitlichen, betriebsbedingten oder aufgrund von Urlaub unterbrochen werden soll, ist vorher zwingend der zahlende Rehabilitationsträger zu benachrichtigen. Entscheidend ist, ob die stufenweise Wiedereingliederung trotz Unterbrechung erfolgreich beendet werden kann. Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass eine Unterbrechung nicht länger als sieben Kalendertage dauert. Eine darüberhinausgehende Unterbrechung ist nur in Ausnahmefällen zulässig.

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1 Urteil des BAG vom 07.08.2012 (9 AZR 353/10)
2 Urteil des EuGH vom 20.11.2011 (C-214/10)
3 gemeinsames Rundschreiben der Rentenversicherungsträger